Kapitel 1: 1174 a.d.

Kapitel 1: 1174 a.d.

Der aufkommende Herbststurm, welcher sich am östlichen Horizont bedrohlich erhob, hatte den jungen Bauer völlig überrascht. Denn noch vor wenigen Augenblicken war der Himmel tiefblau und nichts deutete auf ein mögliches Unwetter, mit Regen oder gar Schnee hin. Obwohl die dritte Jahreszeit schon weit vorangeschritten war und er die tückischen Launen des Wetters sehr gut kannte, war er davon überzeugt, dass ein Sturm am heutigen Tag ausbleiben würde. Irgendwie hatte er das im Gefühl, doch da wurde er von der Natur eines Besseren belehrt. Die Zeichen am Himmel sprachen eine eindeutige Sprache und es gab nichts, was dieses Unheil hätte verhindern können. Wilhelm stoppte kurz in seiner Bewegung und ließ von der Feldarbeit ab. Missmutig schaute er, der älteste von drei Brüdern, auf die dunklen Wolken und stutzte. Wie ein mächtiges Ungetüm, türmten sich die graugrünen Wolken zu einer hohen Wand auf und rollten gefahrdrohend auf ihn und das von seiner Familie gepachtete Land zu. Urplötzlich war das noch wärmende Sonnenlicht vom Unwetter verschluckt worden und der junge Bauer spürte die aufkommende Kälte, welche vom Wind über das Feld herangetragen wurde. Von jetzt auf gleich waren sämtliche Kronen der umgebenden Bäume in Bewegung und kündigten an, was unausweichlich auf sie zu kam. Sehr schnell Begriff der sechsundzwanzigjährige Wilhelm die Situation und reagierte schließlich ohne weiter zu zögern.

Einen leisen Fluch ausstoßend drehte er sich um und blickte hinter sich, auf den gewaltigen braunen Ochsen. Das große Tier zog einen stark in Mitleidenschaft gezogenen Holzpflug, kräftezehrend hinter sich her. Mit dem einzigen Zweck eine schmale Furche in den aufgeweichten Lehmboden zu reißen. Ein etwa zwei Meter langes Seil aus Rosshaar und Bast verband sie bei ihrer Feldarbeit miteinander. Wilhelm schaute das Tier an und schüttelte unzufrieden mit dem Kopf.

„Komm, wir müssen hier weg.“, grummelte er dem Ochsen entgegen. Der junge Bauer umwickelte das raue Seil mit seiner rechten Hand und zog schließlich so kräftig daran, dass es sich kurz vibrierend spannte. Es war dem Tier um den Hals gebunden worden, damit es über den Acker geführt werden konnte. Sofort spürte der Ochse, was der junge Mann von ihm verlangte. Protestierend warf er seinen großen Kopf seitlich nach oben und schnaubte widerwillig auf. Stur wie der Ochse war, bewegte er sich keinen Meter vorwärts. Fluchend schüttelte Wilhelm mit dem Kopf. Ausgerechnet jetzt meinte das Tier bocken zu müssen. Instinktiv spürte der Ochse die Nervosität seines Begleiters und ließ sich davon ein wenig anstecken.  Frustriert zog der Bauer erneut kräftig an dem Seil, bis es sich abermals spannte. Dieses Mal sogar noch etwas fester. Wieder bewegte sich der Ochse nicht und ließ wiedererwartend müde den Kopf hängen. Es war nichts zu machen, dass Tier blieb einfach mitten auf dem Acker stehen. Wilhelm drehte sich nun vollends zu ihm um und ging ein paar Schritte auf das Tier zu. Dabei sank er mit seinen leichten Schuhen in den weichen Lehmboden ein. Es war echt mühselig, nicht nur für den Ochsen. Durch den aufkommenden Wind segelten die Bunten Blätter von den Bäumen, wie reife Früchte zu Boden. Für Wilhelm und seine Brüder wurde es langsam Zeit das Feld zu verlassen. Sie konnten das Tier schließlich hier nicht alleine zurücklassen.

Komm schon.“, flehte Wilhelm den Ochsen sanft an und zog erneut mit aller Kraft an dem Seil, welches seine Haut, auf der Innenhandfläche schon etwas aufgeribbelt hatte und feuerrot war. Der kräftige Kerl ignorierte den Schmerz und versuchte die Spannung der Leine aufrecht zu erhalten. Behutsam verlagerte er sein Gewicht etwas nach hinten und zog, mit seinem kompletten Körpergewicht, so fest wie er nur konnte. Das müde Tier hob wiederholt den großen Kopf und setzte sich schließlich unerwartet in Bewegung. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck drehte sich Wilhelm wieder um und ging erleichtert vorwärts. Dabei ließ er das straff gezogene Seil nicht los und hielt es fest in seiner Hand. Sein Blick richtete sich noch einmal nach Osten, wo sich der Himmel noch einmal mehr verfinstert hatte. Die Aussicht wurde nicht wirklich besser und man konnte nicht behaupten, dass ihm dies gefiel.

Nachdem das Unwetter die Sonne schließlich komplett verschluckt hatte, wurde es zugleich merklich dunkler. Was dazu führte, dass die leuchtenden Farben der Umgebung unmittelbar verblassten und die Landschaft trostloser wirkte als zuvor. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Himmel seine Schleusen öffnen würde und das ganze Land mit Sturm und Regen einnehmen würde. Es war wirklich eile geboten. Auch wenn es Wilhelm nicht gefiel und der Tag bei weiten noch nicht zu Ende war, so war es jetzt doch Sinnvoller heimzukehren, um die Ernte sicher nach Hause zu bringen, welche sie bis jetzt abgeerntet hatten. Wenn gleich dies auch bedeutet, dass sie mit der heutigen Arbeit nicht ganz fertig werden würden. Manchmal musste man etwas zurücklassen, um das zu retten, was man hat.

Seine beiden jüngeren Brüder Gabriel und Oliver, folgten ihm in einen gewissen Abstand. Jeder von ihnen hatte seine Aufgabe, welche zu erledigen war. Olivers Obliegenheit bestand darin, den aufgerissenen Erdboden noch weiter zu vertiefen. Denn der Holzpflug lockerte den Boden zwar auf, aber die Furche war niemals tief genug, um das Saatgut sicher darin zu versenken. Er bearbeitete den Erdboden mit einer einfachen Schaufel, während Gabriel danach das Saatgut des Wintergetreides in den Boden streute. Das braune Ledersäckchen war nur noch zu einem Drittel gefüllt, was bedeutete, dass sie bald fertig waren mit der heutigen Arbeit. Es roch sehr stark nach nasser Erde und vermoderten Pflanzen, was nun mal der Witterung geschuldet war. Im Herbst des Jahres 1174 regnete es einfach häufiger, als in den Jahren zuvor. Ein Wetterphänomen, welches jedem Bauern im Umkreis um Heidelberg extrem zu schaffen machte. Die Ernte war bei weitem nicht so ertragreich, wie es in den Jahren zuvor gewesen war. Dies ließ nicht nur die Bauern unruhig werden.

Wilhelm schaute abermals nach hinten, an dem massigen Tier vorbei und blickte seine Brüder sorgenvoll an. Pausenlos arbeiteten sie weiter, den Blick immer auf den Boden gerichtet, ohne wirklich zu bemerken was sich über ihnen zusammenbraute.

Nachdem Gabriel das Saatgut verteilt hatte, schaufelte Oliver den Boden wieder zu. Was eine Horde schwarzer Raben nicht davon abhielt, die beiden in einem gewissen Abstand zu folgen. Krächzend versuchten die schwarz gefiederten Vögel die Saat aus dem Boden zu picken. Zum Glück für die jungen Männer mit eher mäßigem Erfolg. Gabriel, mit vierundzwanzig Jahren der zweitälteste der drei Brüder, verabscheute diese Tiere zutiefst. Seiner Meinung nach waren sie Vorboten des Unheils und er versuchte die Vögel, so gut wie es eben ging, zu ignorieren. Man konnte beinahe meinen, dass er regelrecht Angst vor ihnen hatte. Eigentlich fürchtete er sich nicht vor vielen Dingen auf dieser Welt, aber diese Geschöpfe lösten ein Unbehagen in ihm aus, welches durch nichts gemildert werden konnte. Woher diese Angst kam wusste er nicht einmal so genau. Sie war aber eindeutig da und zu seinem Leidwesen sehr oft präsent. Um die schwarzen Vögel zu ignorieren, konzentrierte Gabriel sich auf die schwere körperliche Arbeit und machte unbeirrt weiter.

Durch die Dreifelderwirtschaft wurde fast zwei Drittel der gesamten Ackerfläche für Getreide beansprucht. Den Rest bepflanzte die Bauernfamilie mit Kohl. Nach der vorangegangenen Ernte des Sommergetreides wurde nun das Wintergetreide gesät. So wurde das Feld fast das ganze Jahr sinnvoll genutzt, um eventuelle Hungersnöte durch Missernten für die Familie zu vermeiden. Allerdings blieb ihnen nicht sehr viel von der Ernte übrig, denn den größten Teil des Ertrages musste die Bauernfamilie Regeis an ihren Pachtherren abgeben, der ihnen das Land zur Verfügung gestellt hatte. Ein eher ungleiches Geschäft, bei dem es nur einen Gewinner geben konnte.

Lange braune Haarsträhnen klebten Oliver auf der Haut seines verschwitzten Gesichtes und verdeckten zum Teil seine in Falten gelegte Stirn. Der Dreitagebart ließ ihn ein wenig älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Seine Haut war wie aus Samt und sein Antlitz war jung und makellos. Das Auffälligste an ihm waren seine wunderschönen tiefblauen und vertrauenserweckenden Augen, in denen man sich zu verlieren schien. Vor allem wenn man dem weiblichen Geschlecht angehörte. Die Proportionen von Augen, Nase und Mund fügten sich zu einem perfekten Gesamtbild und wirkten teilweise wie von einem Künstler gemalt. Der vermeintlich einzige Makel, wenn man so wollte, war seine blasse Haut. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass der junge Mann etwas krank aussah. Was aber nicht der Fall war. Ganz im Gegenteil. Der zweiundzwanzigjährige junge Mann stand in der Blüte seines Lebens und strotzte nur so vor Kraft. Für einen kurzen Moment stoppte er seine Arbeit und schaute nach vorne zu Wilhelm, der in seinen Augen ziemlich unruhig wirkte. Der Ochse hatte das Tempo etwas angezogen und ging jetzt schneller voran, was Oliver unweigerlich zur Kenntnis nahm. Im gleichen Augenblick schaute er in den Himmel und erkannte, was unausweichlich auf sie zukam. Zügig sah er wieder nach vorne und erkannte wie sein Bruder angestrengt versuchte, den Ochsen vom Feld auf die Waldstraße zu bewegen. Zum wiederholten Male stoppte das Tier kurz vor dem Ziel. Was wiederum dazu führte, dass Wilhelm noch hektischer wurde. Seine langen blonden Haare bauschten sich im immer stärker aufkommenden Wind auf und verfingen sich teilweise in seinem rotblonden Bart, als er ein weiteres Mal kräftig an dem Seil zog. Die buschigen Brauen ließen seine braunen Augen ein wenig schmaler erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren. Wilhelms Gesicht war sehr markant, die Wangenknochen stachen deutlich hervor und bildeten mit seiner runden Kopfform ein perfektes Gesamtbild. Einzig allein die große Nase wirkte wie ein Fremdkörper in seinem Gesicht.

Obwohl die Luft angenehm kühl war, schwitze Wilhelm sehr stark und sein Herz hämmerte vor Kraftanstrengung in seiner Brust. Mit wirklich großer Mühe zog er das alte Tier schließlich auf den festen Weg der Waldstraße. Seine Besorgnis vergrößerte sich noch einmal, als er meinte, den ersten Regentropfen auf der feuchten Haut zu spüren. Mit einer winkenden Handbewegung machte er seinen Brüdern schließlich klar, dass es jetzt besser wäre, den Heimweg anzutreten. Er verlieh seiner Geste noch mehr Ausdruck als er ihnen zurief:

Kommt, wir müssen los!“. Oliver blickte zu seinem Bruder hinüber legte seinen Kopf fragend zur Seite.

Warum hört er mit der Arbeit auf?“, fragte er seinen älteren Bruder. Gabriel ließ die Frage erstmal unbeantwortet. Eilig schüttete Oliver das letzte Loch zu und warf schließlich die Schaufel über seine schmerzende rechte Schulter. Dann setzte er sich in Bewegung und versuchte nicht so tief in den weichen Boden einzusinken, mit mäßigem Erfolg. Seine Schuhe waren völlig mit Lehm bedeckt und wirkten wie zwei klumpige Füße eines mystischen Wesens. Gabriel schnürte indes das kleine braune Ledersäckchen zu und stellte dabei Wilhelms Forderung keineswegs in Frage. Denn er hatte hier draußen das alleinige Sagen. Egal was er für eine Entscheidung traf, er würde sie befolgen. Schließlich gingen sie beide weiter über den feuchten Erdboden, zur schmalen Straße hinüber. Hinter ihnen stritte sich ein paar Raben um den besten Futterplatz.

Diese Viecher waren eine echte Plage.“, dachte Gabriel. Oliver hielt den Holzstiel seines Ackerwerkzeuges fest in seiner rechten Hand und betrachtete seinen Bruder Wilhelm weiter mit Verwunderung.

Der große Blonde mit dem Nutztier war direkt zum Karren gegangen, welchen sie am Wegesrand abgestellt hatten. Es war so wie jeden Tag, wenn sie hier in der Früh mit der Arbeit begonnen hatten. Ohne weitere Zeit zu verlieren, hatte er den Holzpflug schon gelöst und wartete jetzt darauf, diesen auf den Karren zu heben. Dazu brauchte er die Hilfe seiner beiden Brüder.

Plop.

Ein dicker Regentropfen platschte Wilhelm direkt auf die Stirn. Besorgt schaute er nach oben in den wolkenverhangenen Himmel.

Warum hat es unser Bruder auf einmal so eilig?“, vergewisserte Oliver sich noch einmal bei seinem Bruder Gabriel, welcher etwas versetzt vor ihm her ging. Etwas stutzig drehte sich dieser zu ihm um und deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf die Regenwolken am Himmel. Oliver blickte wiederholt in den Himmel und zuckte verständnislos mit den Achseln.

Na und?“, sprach er leise aus.

Wie na und? Ist das nicht Grund genug?“, fragte Gabriel verwundert. Seine Stimme klang etwas heißer. Der junge Bauer verzog kritisch sein Gesicht und blickte Gabriel dann etwas ratlos an. Oliver verstand die Hektik wirklich nicht. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass sie bei Regen oder Schnee auf dem Feld waren und gearbeitet hatten. Sicher würde es bald unangenehm werden, aber die Arbeit deswegen zu unterbrechen, stand nicht wirklich zur Debatte. Vor allem weil nicht mehr viel zu tun war. Er suchte nach den passenden Worten und schließlich betonte er:

Und? Es wird Regen geben!“. In seiner Stimme klang so viel Gleichgültigkeit wieder, dass Gabriel sich ernsthaft fragte was Oliver nicht verstanden hatte. Sah er denn nicht den aufkommenden Sturm? Ungläubig schüttelte er mit dem Kopf und stöhnte kurz verzweifelt genervt auf. Oliver hatte fest damit gerechnet, bis zum Abend hier zu bleiben und zu arbeiten. Egal was auch passieren würde. So eine Hungersnot, wie sie es vor drei Jahren erlebt hatten, wollte er nicht noch einmal erdulden. Das arme Bauernleben im zwölften Jahrhundert war ausgesprochen hart und von sehr vielen Schicksalsschlägen geprägt. So lebten die Menschen, vor allem die Bauern vom niedrigen Stand, in ständiger Bedrohung, nicht genügend zu essen zu erwirtschaften. Dies war bei Missernten meist der Fall. Schlimmer wurde es nur noch, wenn sie zusätzlich bestohlen wurden. Was leider nicht gerade selten vorkam. Wenn es um das eigene Überleben ging, taten die Menschen alles Mögliche und ließen nichts unversucht, um an Nahrung zu kommen. Also war es für ihn nur logisch, jetzt weiter auf dem Feld zu arbeiten. Sie mussten mindestens noch fünf Reihen Saat auf dem Feld verteilen. Das Ledersäckchen war noch nicht leer. Auch der Kohl war noch nicht vollständig abgeerntet.

„Macht alles keinen Sinn.“, schoss es ihm durch den Kopf. Schweigend folgte er Gabriel weiter. Mit sich und seinen Gedanken beschäftigt. Auf der Waldstraße angekommen, blieb er kurz stehen, klopfte sich den Lehm von den Schuhen und blickte abermals in den Himmel. Mit einem lauten zischen brachte er seinen Unmut zum Ausdruck. Wilhelm hörte es zwar, ignorierte es aber. Nicht jede Aktion verlangte nach einer Reaktion. Mit einer schnellen Handbewegung winkte er die beiden zu sich. Oliver ging zum Karren hinüber und warf seine Schaufel etwas achtlos auf die Ladefläche. Genau dorthin, wo noch kein Gemüse lag und packte schließlich mit an.

Mit vereinten Kräften schafften sie es schließlich, alles zügig zu verstauen. Auf der rechten Seite lag der wenige Kohl, auf der linken Seite waren die Werkzeuge untergebracht. Danach spannte der große Blonde mit seinen geschickten Händen das Gefährt ein, damit der müde Ochse den Karren ziehen konnte. Seine Hände waren riesige Pranken, die kräftig genug waren, um einem ausgewachsenen Mann das Genick zu brechen. Wozu er ohne Zweifel bereit wäre, wenn es die Situation erforderte. Alles was er mit diesen Händen zu packen bekam, ließ er so schnell nicht mehr los. Es sei denn er wollte es so. Eine riesige Narbe zog sich durch die linke Handinnenfläche, vom Daumen quer bis zum kleinen Finger, und zeugte von einer großen Verletzung in jungen Jahren. Die Erinnerung daran verlieh ihm immer noch ein flaues Gefühl in der Magengegend. Nur einem glücklichen Zufall war es zu verdanken, dass sein Vater in der Nähe gewesen war und die Wunde blitzschnell hatte versorgen können. Völlig schmerzfrei starrte der Junge damals auf die Wunde, aus der sehr schnell dunkles Blut sickerte. Der Schock saß so tief, dass er eine geraume Weile brauchte, um sich davon zu erholen.

Plop, Plop

Wieder bekam Wilhelm ein paar dicke Regentropfen ab. Sie mussten in den schützenden Wald und zwar eilig. Die noch zum Teil vollen Baumkronen würden sie vor dem Sturm etwas schützen. So war jedenfalls der Plan. Zügig sprang er auf den Hochsitz des Gefährts und zog am Seil, so dass der Ochse sofort verstand und sich dieses Mal, ohne zu protestieren in Bewegung setze. Schon bald verschwanden die drei Brüder mitsamt dem Tier im dichten Wald. Die Raben blieben allein zurück und suchte nach Nahrung auf dem Feld. Der aufkommende Herbststurm war dabei für die Tiere nicht von Bedeutung.

Schließlich fing es heftig an zu regnen. Gemischt mit einzelnen dicken Schneeflocken, welche unaufhörlich auf den Boden sanken. So sehr sie sich auch beeilten, es war vergebens. Noch bevor sie die Hälfte des Heimwegs durch den Wald zurückgelegt hatten, steckte das Gefährt das erste Mal, in dem vom Niederschlag aufgeweichten Schlammboden fest. Die Waldstraße war leider doch nicht überall gut befahrbar wie Gedacht. Die Hoffnung des ältesten wurden hier leider nicht erfüllt. Dort wo die Straße frei vom Blätterdach war, gab es keinen natürlichen Schutz mehr und der Niederschlag stürzte hier ungehindert zu Boden. Schon bald bildeten sich an solchen kleinen Lichtungen große Pfützen, da der Erdboden die vielen Wassermassen nicht mehr aufnehmen konnten. Und genau an so einer Lichtung steckten die drei jetzt fest. Es war eine kleine Senke, eingekesselte von zwei landschaftlichen Erhebungen. Während Wilhelm das Tier abwechselnd anschrie und ihm gutmütig zusprach, stemmten sich Gabriel und Oliver mit aller Kraft, die ihren jungen Leibern innewohnte, gegen den Karren. Sie versuchten mit aller Macht die großen Holzräder aus dem Matsch zu befreien. Erst nach dem fünften Anlauf gelang es dem Nutztier, den Wagen aus der Kuhle zu befreien. Ohne stehen zu bleiben, sprang Gabriel sogleich auf den Karren und legte sich zum Teil, erschöpft auf dem geernteten Kohl nieder. Es war ein wenig unbequem, aber immer noch besser als nebenher zu laufen. Der Ochse zog den Karren weiter den Hügel hinauf.

„Endlich,“ flüsterte Wilhelm, der völlig durchnässt auf dem Hochsitz des Karrens saß.

Gabriel blickte in die Wolken und ließ das kühle Nass auf sein Gesicht prasseln. Dabei holte er tief Luft, um seinen Puls etwas zu verlangsamen, während Oliver lieber weiter hinter dem Wagen herlief. Seine aus Wolle bestehende graue Kleidung war mittlerweile ebenfalls durchnässt. Gedankenverloren zog er seine nasse Kapuze über den Kopf starrte auf den matschigen Waldboden unter sich und schien die aufkommende Kälte kaum zu spüren, die durch den nassen Stoff drang. Mittlerweile hatte schon die Dämmerung eingesetzt und die dunklen Wolken über den Männern wirkten jetzt noch bedrückender als vorher.

Nur die Hälfte des Weges…“ murmelte Wilhelm, der den Ochsen gegen das Tosen des aufkommenden Windes anführte. Erneut überkam ihn ein Gefühl des Unbehagens und sein Mut wurde durch das Wetter nicht gerade bestärkt. Die Sorgen, von Landstreichern oder von einem gefährlichen Tier angegriffen zu werden, wuchsen unaufhaltsam. Jetzt auf einen Wolf zu treffen, war denkbar schlecht. Sie musste die Ernte sicher nach Hause bringen. Gerade jetzt wo sie mit der Arbeit nicht fertig geworden sind, war es umso wichtiger für die Familie. Er sah besorgt nach seinem jüngeren Bruder Oliver, der in einem gewissen Abstand hinter dem Wagen herlief. Ihm gefiel es ganz und gar nicht, dass er sich zurückfallen ließ.

Springt auf Bruder!“, befahl er ihm in einem Ton, der vielleicht ein wenig zu barsch gewesen war. Seine dunkle Stimme wirkte meistens etwas härter, wenngleich seine Worte gar nicht so streng gemeint waren. Ein zorniger Blick traf ihn und er merkte sofort, dass sein Bruder alles andere als begeistert war. Dennoch wollte er nicht, dass der Jüngste alleine hinter ihnen herlief.

Wir müssen schnell nach Hause, das lahme Traben bringt uns nicht weiter.“, fügte er hinzu. Oliver blickte erneut auf. Er wollte sich von seinem Bruder nicht vorschreiben lassen, was er zu tun und zu lassen hatte. Aber eine Wahl hatte er eigentlich nicht. Wenn gleich er das nicht eingesehen hatte.

Nur vier verdammte Jahre älter und er spielt sich auf wie ein Lehnsherr.“, murmelte Oliver in sich hinein.

Wie bitte?“, fragte der Älteste, seinen Blick starr auf die Straße nach vorne gerichtet. Er war der Meinung, etwas gehört zu haben. Doch durch das Rauschen des Schneeregens war es schwer, gesprochene Worte auf diese Entfernung zu verstehen.

Ich sagte nichts“, rief Oliver ihm zu und schüttelte verneinend den Kopf. Oliver wusste genau, dass bei jedem weiteren Wort die Situation eskalieren könnte. Aber vielleicht war das gar nicht so schlecht, wenn er jetzt mal seine Meinung sagte. Die Wut in sich hineinzufressen, war eigentlich keine Option für ihn.

Redet, was ist das Problem?“, brummte Wilhelm, der dieses Verhalten missbilligte. Oliver schaute auf den Waldboden und sagte recht laut, so dass alle es hören konnten:

„Eure Furcht und eure Vorsicht, Bruder.

Wie bitte?“ Wilhelm legte die Stirn in Falten und war kurzfristig irritiert. Zügig drehte sich nach hinten um. Schließlich holte Oliver etwas zum Karren auf und fing an seine Beschwerde weiter hörbar an seinen Bruder heranzutragen. Dabei gestikulierte er wild mit seinen Armen hin und her. Man sah ihm an das er so richtig in Rage war.

„Wir waren noch nicht fertig mit der Aussaat und außerdem ist der Karren erst halb voll. Die Ernte war dieses Jahr sehr bescheiden. Daher hätten wir lieber noch ein wenig auf dem Feld bleiben sollen und weiterarbeiten müssen. Den Kohl hätten wir heute abernten können. So wird es uns nicht reichen. Was ist, wenn er morgen weg ist? Wenn man uns bestiehlt?“ Er hielt kurz inne, schaute auf den halb leeren Karren und ereiferte sich dann weiter:

Weil ihr feige seid, muss die Familie wohl hungern.“, sagte er wütend, beinahe fauchend. Wilhelm stockte in seiner Bewegung, zog an seinem Seil und befahl dem Ochsen, stehen zu bleiben. Sie standen jetzt zum Glück oben auf dem Hügel, wo der Boden fester war. Er holte tief Luft und drehte sich schließlich erneut langsam mit seinem gesamten Oberkörper um und suchte den direkt Blickkontakt mit Oliver. Das ihr Feld nicht direkt am Dorf lag war sicherlich ein Nachteil. Aber der Boden unmittelbar am Dorf war einfach nicht mehr ertragreich. So waren sie gezwungen weiter in den Wald zu gehen.

„Jetzt? Wir wollen das jetzt besprechen?“, zürnte er. Ohne darauf eine Antwort zu bekommen, blickte Oliver ihn zornig an. Das konnte und wollte Wilhelm sich nicht gefallen lassen. Schließlich war er der Älteste hier. Er hatte die Verantwortung, die ihm der kranke Vater übertragen hatte. Er ließ das Seil los, sprang mit einem Satz vom Wagen hinunter und landete mit beiden Beinen auf dem nassen Boden. Oliver ging sogleich ein paar Schritte zurück. Den vielen Pfützen ausweichend, ging Wilhelm ihm nach. Gabriel richtete sich unterdessen auf und beobachtete die Szenerie mit ein wenig Besorgnis. Er war jeder Zeit bereit einzuschreiten, ahnend was passieren könnte. Er zog seine graublaue Kapuze nach hinten, sodass seine kurzen, dunkelbraunen Locken zum Vorschein kamen. Schnell spürte er die prasselnden Regentropfen auf seiner Kopfhaut. Die Farbe seiner Haare deckte sich in etwa mit der seiner Augenfarbe. Gabriel war ein dunkler Typ und obwohl er nur ein wenig jünger als Wilhelm war, wirkte er wesentlich älter. Sein Gesicht war mit vielen Falten durchzogen und wirkte ein wenig grau. Indes baute sich Wilhelm energisch vor seinem Bruder auf.

Wie könnt ihr es wagen, in diesem Ton mit mir zu reden? Ich bin mir meiner Verantwortung der Familie gegenüber durchaus bewusst. Stellt meine Entscheidung also nicht in Frage, Bruder.“  Er hob mahnend den Zeigefinger. Oliver giftete seinen Bruder an. Gerade wusste er aber nicht, ob es ihm darum ging, dass sein Bruder Recht hatte oder ob es die Angst war zu Hungern. Seine Gefühle waren etwas durch einander und das konnte Wilhelm in seinem Gesicht lesen.

Seht auf die Straße. Hätten wir noch länger gewartet, hätten wir den Karren vielleicht im Wald stehen lassen müssen. Dann hätten wir mit Sicherheit gar nichts gehabt. Oder seid ihr im Irrglauben ein alleinstehender Wagen mit frischer Ernte bleibt hier unentdeckt? Wir sind schon einmal stecken geblieben. Die Gefahr ist zu groß.“  Wilhelm knirschte mit den Zähnen. Gabriel beugte sich nach vorne und stütze sich mit den Ellenbogen an der Randbegrenzung des Holzwagens ab.

Da hat er Recht!“, meinte er schließlich. Dabei klang er sehr ruhig und besonnen. Doch Oliver schüttelte erneut verständnislos mit dem Kopf und fing an zu schmollen. Er war eigentlich richtig böse auf seine Brüder. Besonders auf Wilhelm. Und obwohl er dieses Gefühl hatte, wusste er aber, dass seine Brüder Recht hatten. Aber die Sorge, im Winter wieder hungern zu müssen, ließ ihm keine Ruhe. Ein leerer Magen fordert eine gewisse Risikobereitschaft.

Wir holen den Rest morgen. So Gott will, wird das Wetter morgen besser und wir können mit unserer Arbeit weiter machen.“ Gabriel beobachtete die beiden ganz genau und versuchte, aus beiden Gesichtern denselben Ehrgeiz herauszulesen. Aber das war zum jetzigen Zeitpunkt vergebens.

Wir sollten zu Hause sein, bevor es richtig dunkel wird. Durch den nassen Boden kommen wir nicht so schnell voran wie gewünscht.“ Wilhelm zwang sich zu lächeln. Was ihm in diesem Moment schwer fiel und reichlich aufgesetzt wirkte. Für einen kurzen Moment herrschte betretendes Schweigen. Und gerade als Wilhelm dachte es sei alles geklärt, fing Oliver erneut an zu zetern wie ein Waschweib.

Ihr seid beide feige wie die Hühner“, giftete er. Wilhelm schaute Oliver erstaunt an. Er konnte es einfach nicht gut sein lassen. Drohend kam er noch ein Stück näher, sodass dieser ungefähr eine Armlänge vor seinem Bruder entfernt stand.

„Ich verzeihe Euch diese Frechheiten, weil ihr mein Bruder seid und ich Euch liebe, aber sagt noch ein Wort und ich…“. Er ballte die Faust.

Was, Wilhelm? Was wollt ihr dann machen?“, fiel ihm der Jüngste in sein Wort.

Ich zeige es euch!“, drohte er mit weit aufgerissen Augen. Die Adern an seinem Hals fingen an zu pulsieren.

Ist das so?“, beim letzten Wort feixend. Oliver schüttelte verachtend den Kopf, konnte er die Entscheidung einfach nicht recht verstehen. Oder wollte er sie einfach nicht verstehen? Der junge Mann wusste es wohl selber nicht so genau.

Kommt endlich, es ist Zeit! Ich diskutiere meine Entscheidung nicht weiter mit Euch. Also redet nicht weiter und beeilt euch lieber.“ Erzürnt blickte Oliver ihm in die Augen.

„Das ist nicht richtig. Ihr seid ein Feigling.“, beleidigte er ihn erneut.  Wilhelms Gesichtsfarbe wechselte nun zu einem sehr kräftigen Rot. Langsam stieß seine Geduld wirklich an Grenzen.

Wie war das?“, fragte Wilhelm und kam schnaubend noch ein Stück näher.

Darauf hatte Oliver schließlich gewartet. Sein Ziel war es wohl einen Streit zu entfachen, nur um sein Recht durzusetzen. Nun war es soweit und Wilhelm drohte ihm offensichtlich. Oliver hielt dem wütenden Blick seines Bruders kurz stand. Was machen Tiere, wenn sie sich bedroht fühlen? Sie flüchte oder sie greifen an. Oliver entschied sich für letzteres. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Einem Impuls gleich holte der junge Mann aus und schlugt zu, so feste er nur konnte. Der Schlag kam so plötzlich und unerwartet, dass der ebenso überraschte Gabriel nicht mehr eingreifen konnte. Die Faust traf Wilhelm direkt am Kinn. Dieser stolperte zurück und fiel rücklings zu Boden, in den Matsch. Wie ein toter Käfer lag er da und war für einen kurzen Augenblick völlig orientierungslos. Wilhelm spuckte Blut aus seinem Mund. Verachtend blickte er nach oben in den Himmel. Kleine Lichtpunkte tanzten wild vor seinen Augen herum und seine Wut stieg noch um eine weiteres an. Aufgeregt atmete er einmal Tief ein und dann wieder aus. Der kühle Niederschlag prasselte auf sein Gesicht und kühlte sein heißes Gemüt ein wenig ab. Dann schüttelte er mit dem Kopf und richtete sich langsam wieder auf. Für den Bruchteil einer Sekunde, blickte er seinen jüngeren Bruder wütend an. Schließlich ging er auf die Knie und stellte sich wieder auf seine Füße. Seine Hände waren jetzt ebenfalls, wie seine Kleidung mit feuchtem Schlamm besudelt.

Das war ein Riesenfehler, dass ist euch bewusst oder?.“, brummte Wilhelm, während er sich an sein Kinn faste und dabei den Kiefer bewegte. Schließlich konnte der Älteste nicht anders und stürmte wütend auf seinen Bruder zu. Holte aus und antwortete ebenfalls mit einem Faustschlag, der aber ins Leere ging, da Oliver sehr schnell ausweichen konnte. Die Faust prallte hart gegen das nasse Holz des Wagens und splitteten zum Teil. Sein jüngerer Bruder, der unter dem Schlag weggetaucht war, tänzelte um Wilhelm herum und stand bald hinter seinem Rücken.

Verdammter Bastard.“, schrie Wilhelm in an. Schließlich drehte er sich schnell einmal um die eigene Achse, sodass er seinem Bruder wieder gegenüberstand.  Rasend vor Wut wollte Wilhelm zum zweiten Schlag ausholen, doch bevor die Keilerei richtig losging, war Gabriel endlich zur Stelle und war zwischen die beiden Streithähne gesprungen. Er griff nach dem Handgelenk seines aufgebrachten Bruders Wilhelm und befahl ihm, das Kämpfen einzustellen.

Hört auf, beide!“, schrie er die Brüder an und schubste währenddessen Oliver mit seinen Ellenbogen außer Reichweite, sodass Wilhelm ihn nicht mehr erreichen konnte. Wieder setzte Wilhelm an, doch Gabriel konnte ihn zurückhalten, indem er ihn mit beiden Händen an den Schultern packte und ihn wegschob.

Genug jetzt!“, brüllte Gabriel abermals. Dieses Mal noch bestimmender. Wilhelms Augen glühten vor Zorn und er musste aufpassen, dass er dem Schlichter nicht in sein Gesicht schlug. Nach ein paar Sekunden der Ruhe, nickte er Gabriel schließlich stumm zu und wandte sich wortlos um. Er ballte die Faust erneut und ging zurück zum Lasttier. Nachdem er ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal um, blickte seine Brüder an, die immer noch wie angewurzelt an derselben Stelle im Schneeregen standen, ohne etwas zu sagen.

Wir müssen weiter, das Wetter wird schlechter!“, die Wut ebbte in diesem Moment etwas ab.  Wilhelm tastete sein Kinn erneut ab und meinte, schon eine Schwellung zu spüren. Er war richtig verärgert über Oliver, versuchte aber, die Empörung weiter niederzukämpfen. Manchmal war es Sinnvoller, sich und seine Wute zurückzunehmen. Ein Kampf machte hier und jetzt keinen Sinn.

Rücksichtsloser Bursche...“, murmelte er nochmals und sprach dabei so leise, dass Oliver ihn nicht verstehen konnte. Eigentlich hatten die beiden ein gutes und enges Verhältnis. Aber der Hunger konnte manchmal ein Keil zwischen die beiden treiben. Mit einem Schwung kletterte er auf den Hochsitz des Holzkarren und griff nach dem nassen Seil. Sofort befahl er dem Ochsen, weiter zu gehen. Er kannte seinen Bruder ganz genau. Er hatte ein aufbrausendes Gemüt, wenn es darum ging, sein Recht einzufordern. Sonst war Oliver eher ein ruhiger Geselle, aber wenn es darum ging, Recht zu haben, dann bestand er meistens darauf. Schon bald würden sich alles wieder beruhigen.

Oh man, kleiner Bruder, was denkt ihr euch immer dabei?“, fragte Gabriel. Dann ging er ein paar Schritte zurück und sprang mit einem Schwung erneut auf den Wagen. Er landete mit seinem Hintern auf dem nassen Holz und schaute seinen Bruder kritisch an. Dabei schüttelte er verständnislos mit dem Kopf. Die Aktion war einfach nicht nötig gewesen. Oliver musste noch viel lernen.