Kapitel 3: Begegnungen

Kapitel 3: Begegnungen

Die Kälte, vom Wind angepeitscht, schlug den drei Brüdern heftig in ihre Gesichter, so dass sie ihre Kapuzen noch tiefer in ihr Antlitz ziehen mussten, um sich zu schützen. Obwohl Olivers Füße schmerzten, zog er es weiter vor, nach dem Streit lieber neben dem Karren herzulaufen. Er wollte in diesem Moment einfach nur für sich sein und brauchte die Zeit um etwas nachzudenken.

Er war gerade so sehr mit seinem eigenen Gedanken beschäftigt und versuchte für sich die Situation mit Wilhelm zu bewerten, als er meinte eine Bewegung im Augenwickel war genommen zu haben. Verdutzt blieb er stehen und blickte zur Seite in die Pflanzenwelt, die durch den Wind pausenlos in Bewegung war. Seine Brüder bekamen davon nichts mit und steuerte weiter die Waldstraße, Richtung Heimat entlang. Gabriel lag mit den armen Verschränkt auf der Liegefläche und starrte nachdenklich in die Wolken. Sein Bruder Wilhelm blickt starr nach vorne und machte keine Anstalten sich umzudrehen. Indes blieb Oliver stehen und drehte sich gänzlich zur Seite. Genau blickte der junge Bauer in den bunten Laubwald hinein und versuchte eine Bewegung auszumachen. Durch eine kleine Öffnung zwischen zwei Büschen, an ein paar dicken Ästen vorbei, konnte er sich die nähere Umgebung minuziöser ansehen. Doch auf Anhieb sah er nichts, was einer schnellen Bewegung gleichkam. Behutsam ging er ein Stück näher an die Waldgrenze heran und schaute in die lichtarme Umgebung des Waldes hinein. Unweit von ihm sah er einen umgefallenen Baumstamm, dessen große Wurzel zum Teil bis zwei Meter in die Höhe ragte. Der Baum war schon morsch, lag schon seit einiger Zeit auf dem Waldboden und bot unzähligen Insekten Nahrung und Schutz vor Fressfeinden. Die Moosschicht war dick und grün und überlagerten den größten Teil des Holzes. Genau hier meinte er die Bewegung wahr genommen zu haben. Seine Augen suchte die nähere Gegend weiter ab, aber da war rein gar nichts. Jedenfalls konnte er hier nichts Ungewöhnliches feststellen. Kurzer Hand blickte er wieder auf den Straßenverlauf und war sichtlich überrascht, wie schmal diese doch eigentlich war. Mit der nahenden Dämmerung wirkte die ganze Umgebung irgendwie noch bedrohlicher als vorher. Vor lauter Bäumen und Sträuchern war in der Ferne kaum eine abgrenzende Kontur auszumachen. Alles verschwamm zu einer einzigen Wand aus verschiedenen erdfarbigen Tönen. Selbst die kleine Anhöhe, die sie gerade eben noch passiert hatten, verhalf nicht zur besseren Sicht. Der Wagen war schon einige Meter von ihm entfernt und war bei dem schlechten Wetter kaum noch auszumachen.

War es wirklich eine flüchtige Bewegung, die er da aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte? Oder war es doch nur eine Täuschung, die seine Augen aufgrund des Wetters, einen Streich gespielt hatte? Er versuchte seine Sinne zu schärfen, blickte abermals in den herbstlichen Wald und kniff die Augen zusammen, um irgendetwas zu erkennen. Doch da war nichts außer der Bewaldung.

Also doch nur eine Täuschung!“, murmelte er und zuckte ratlos mit der Schulter. Urplötzlich spürte er eine Kälte in sich aufsteigen, die sehr viel tiefer ging, als es das Wetter jemals hätte erzeugen konnte. Es war an der Zeit wieder aufzuschließen. Zügig setzte er sich in Bewegung und lief seinen Brüdern hinterher. Gabriel hörte die laufenden Schritte seines Bruders und richtete sich kurz auf. Auf beiden Ellenbogen aufgestützt sah er ihn herannahen.

„Was ist los?“, fragte er ihn verwundert, als er den Wagen erreichte.

„Habe nur was nachgesehen“, bekam er als Antwort. Erneut versuchte Gabriel seinen Bruder dazu zu bewegen, auf das Gefährt zu klettern und bot ihm erneut seine Hand helfend an, als er sich hingehockt hatte. Erleichtert stellte er fest, dass Oliver nach seiner Hand griff. Mit gehörigen Portion Unverständnis zog er seinen jüngeren Bruder schließlich auf den fahrenden Holzwagen. Dieser ließ sich erschöpf auf den Hintern plumpsen und war irgendwie froh doch nicht mehr laufen zu müssen. Man konnte sich das Leben auch selber schwer machen.

Ein weiteres rasselndes Geräusch aus einem naheliegenden Gestrüpp ließ Olivers Kopf erneut zur Seite fahren und einen Punkt im Wald fixieren. Mit einem leisen, kaum hörbaren Ruf und einer mahnenden Handbewegung zwang er seine Brüder ruhig zu sein. Oliver stellte sich auf beide Knie und musterte die Umgebung erneut. Wilhelm drehte sich zu diesem Zeitpunkt nach hinten um, als er dem Tier gleichzeitig befahl stehen zu bleiben. Instinktiv griff er mit der rechten Hand nach seinem Messer, welches an seinem Gürtel befestigt war. Oliver drehte jetzt den ganzen Oberkörper in die Richtung des Waldes. Genau in die Richtung aus welcher die vermeintlichen Geräusche kamen. Er zog die Kapuze etwas zurück und vergewisserte sich, dass sie auch wirklich alleine waren. Stirnrunzelnd schaute er sich um und lauschte. Doch da war wieder nichts Abnormes. Drohte wirklich Gefahr oder spielte ihm sein Verstand einen Streich? Die Lichtverhältnisse wurden immer schlechter und machten es schwer, Bewegungen im Wald richtig zu deuten. Alle drei lauschten gespannt in die Böschung hinein. Doch außer dem Rauschen des Schneeregens und dem Ächzen der Bäume durch den Wind war nichts zu hören.

Was ist denn los?“, flüsterte Wilhelm fragend, während er den Metallgriff des Messers fester umklammerte. Die Nervosität stand ihm ins Gesicht geschrieben. Oliver reagiert sofort nonverbal auf die Frage seines Bruders und schüttelte mit dem Kopf. Er hatte keine Ahnung, aber irgendwas stimmte hier nicht. Er legt den Zeigefinger auf seine Lippen und bat um Ruhe. Seine Augen suchten die Gegend weiter ab. Keiner von ihnen wagte es noch ein Wort zu sagen, geschweige denn, laut zu atmen. Plötzlich vernahm Oliver ein weiteres Rascheln im Unterholz. Es wurde deutlich lauter und er lokalisierte jetzt eindeutig Schritte, die über den Waldboden rannten. Er hatte sich doch nicht getäuscht. Die ernsten Gesichter von seinen Brüdern verrieten Oliver, dass die Geräusche keine Hirngespinste waren und jetzt auch von den anderen beiden wahrgenommen wurden. Jemand näherte sich, laut und keuchend. Kurz darauf kam ein weiteres Geräusch hinzu, was einem Donnergrollen gleichkam.

Oliver schaute ungläubig in den Himmel, aber von da kam das Getöse nicht. Irritiert starrte der Jüngste wieder in den Wald hinein. Schließlich erkannte er zwischen den Laubbäumen einen jungen Mann, der braune Beinlinge und eine blaue Jacke aus Wolle trug. Sein Gesicht leuchtete feuerrot vor Anstrengung und spiegelte den Ausdruck des Entsetzens wider. Auf seiner linken Stirnseite klaffte eine große Wunde, die blutverschmiert war.

Mit einem Satz sprang der Läufer über einen kleinen Busch und stolperte auf die Waldstraße. Um ein Haar wäre er gestürzt, konnte aber das Gleichgewicht im letzten Moment wiedererlangen und stand schon bald mit beiden Füßen auf dem nassen Boden. Oliver sah, dass er einen Schuh verloren hatte und die blanken Zehen zu sehen waren. Auch hier war die Haut aufgerissen und Blut floss aus vielen kleinen Wunden. Ohne die geringste Notiz von den Brüdern zu nehmen, lief er über die Waldstraße und stammelte etwas Unverständliches panisch in die Luft. So schnell der Flüchtige aufgetaucht war, so zügig verschluckte ihn der Wald auf der anderen Straßenseite wieder. Alles ging so schnell, dass den Brüdern keine Zeit zum Reagieren blieb.

Jetzt wurde das Donnergrollen immer lauter und schließlich erkannten sie, was es verursachte. Alle drei drehten sich fast gleichzeitig nach hinten um und blickten auf die Anhöhe, welche sie gerade passiert hatten. Ein Pferd kam die Biegung im gestreckten Galopp entlanggelaufen und stürzte auf die jungen Männer zu. Völlig handlungsunfähig starrten sie auf das weiße Pferd, welches schließlich kurz vor ihnen stehen blieb. Der Reiter, in voller Rüstung mit einem Stahlhelm und einen Überwurf in Blutrot und Weiß, zügelte sein Pferd und hob die Hand zum Gruß.

Gott sei mit Euch!“, sagte er ein wenig außer Atem und mit katalanischem Akzent. Sein Pferd stampfte unruhig mit den Hufen hin und her. Sie waren sichtlich in Eile.

Gott sei auch mit Euch, mein Herr!“, erwiderte Wilhelm und versuchte direkten Augenkontakt mit dem Ritter zu vermeiden.

„Sagt, wohin ist er gelaufen?“, fragte der Ritter ungeduldig.

Dort lang, mein Herr!“, haucht Gabriel ebenfalls ehrfürchtig und zeigt mit dem Finger in den Wald. Der Ritter schien zu ahnen, wohin der junge Mann fliehen wollte, und spornte sein Pferd ohne ein weiteres Wort zu verlieren wieder an. Da er nicht durch den dichten Wald reiten konnte, befahl er dem Tier, die Straße weiter entlang zu galoppieren und zwar Parallel zur  Richtung, in die der junge Mann verschwunden war. Das Donnern entfernte sich wieder und bald darauf war vom Reiter nichts mehr zu sehen.

Der hat sich wohl was zu Schulden kommen lassen!“, stammelte Gabriel.

Wahrscheinlich hatte der Bursche was gestohlen?“, grübelte Wilhelm. Das war allerdings nur eine Vermutung.

Kopfschüttelnd, da sie schon wieder Zeit verloren hatten, nahm Wilhelm das Seil wieder in die Hand und wies den Ochsen an, weiter zu gehen. Doch dieser setzte sich nur schwerfällig und unter Protest in Bewegung. Oliver hörte das Fluchen seines Bruders kaum und seine anfängliche Wut ihm gegenüber wich einer leisen Besorgnis. Das hätte auch anders ausgehen können.

An seinen Bruder Gabriel angelehnt sitzend blickte Oliver weiter in den Wald, wohin der Mann gelaufen war.

Welches Schicksal ihn wohl ereilen mag?“ Oliver ahnte es bereits. Nach wenigen Momente waren die drei Brüder hinter einer Biegung verschwunden und waren auf der Waldstraße nicht mehr zu sehen.

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Genau in diesem Moment trat der Wolf auf behutsam die Straße und blickte auf den leeren Weg vor sich. Für einen Moment blieb er einfach nur so dastehen. Hörte wie sich der Reiter und die die Menschen mit dem Wage entfernten. Er hatte noch ein Jäger dazu gekommen. Für eine kurzen Moment schien das Tier zu zögern. Dann drehte der Wolf sich schließlich um lief zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Eine Verfolgung machte hier keinen Sinn mehr.