Kapitel 5: Heimwärts

Kapitel 5: Heimwärts

Glücklicherweise hatte der Schneeregen am späten Abend nachgelassen und schlussendlich eine Pause eingelegt. Die Wolkendecke riss an manchen Stellen sogar auf und das orangerote Licht der untergehenden Sonne, blickte an manchen Stellen hindurch. Trotzdem waren die Männer immer noch Nass bis auf die Haut und nichts vermochte die Kälte aufzuhalten, die undurchdringlich an ihrem Körper nagte, wie eine Ratte an einem Stück Brot. Umso mehr sehnten sie sich nach der warmen und vertrauten Wohnstube, wo sie endlich zu Ruhe kommen konnten. Die Fahrt war weiter beschwerlich gewesen und der Wagen war noch zwei Mal im Matsch eingesunken. So lange hatten sie noch nie für die Rückfahrt gebraucht. Mit jedem Stopp war die Gruppe von noch größerer Unruhe gepackt worden. So hatten sie sich mit steigender Verbissenheit um das Freikommen bemüht und sich untereinander keine große Beachtung mehr geschenkt. Die Anspannung war greifbar und ging erst ein wenig zurück, als sie in die vertraute Umgebung des Dorfes kamen.

Hier wurde der Weg endlich besser, da der Untergrund mit verschieden großen Steinplatten, aus einer längst vergangenen Zeit gepflastert war. Es wurde zwar holpriger, aber die Holzräder sanken nicht mehr in den weichen Matsch ein. Die Straße war so breit, dass man bequem mit einem Ochsenkarren durchfahren konnte. Das Dorf zählte fünfzehn größere und kleinere Gebäude, die alle in Sichtbarer Nähe zur Kirche Mariahilf gebaut wurden. Sie war das höchste Gebäude im Dorf und wurde zusammen mit dem Friedhof, durch einen Zaun umschlossen. Eine riesige Eiche, die direkt neben ihr stand, warf beschützen seine Äste über die Vielzahl an Gräbern. Selbst im Dämmerlicht erkannte Wilhelm die Kirche sofort und atmete tief ein, als er das helle Gebäude aus Stein ausmachte. Nach dem sie die große Mühle hinter sich gelassen hatten, machte der Weg einen kleinen Knick nach rechts und die Straße wurde hier nochmal ein Stück breiter. Auf der rechten Seite lag das große Herrenhaus mit seinen prächtigen Anbauten. Ein Wassergraben, der einmal komplett um das Grundstück ging, schütze es vor ungebetenen Gästen. Es war nur über zwei Holzbrücken zu erreichen, die in der Nacht hochgezogen wurden. Ein Stück weiter links befand sich das kleine Haus des Schmiedes, welches ein bisschen verloren dem Herrenhaus schräg gegenüberstand. Schmied Saxmut war ein guter Freund der Familie und hatte schon oft den Karren repariert, wenn dieser zum wiederholten Mal kaputt gegangen war. Nicht nur sie musste schwer und hart arbeiten, auch dem Karren wurde einiges abverlangt.

Wilhelm lenkte den Wagen an der Kirche und der kleinen Töpferei vorbei, welche schräg gegenüber zum Gotteshaus lag. Nach ein paar Metern kamen sie an eine T-Kreuzung, wo sie noch einmal nach rechts abbiegen mussten, in die Richtung des Versammlungsplatzes. Um diese Zeit waren kaum noch Menschen auf der Straße und der Brunnen wirkte in der Mitte des Platzes recht verloren. Direkt daneben auf der linken Seite befand sich endlich der Stall mit samt dem Wohnhaus, der Familie Regeis.

„Geschafft“, flüstert Wilhelm, ohne dass die anderen ihn hörten. Der Wohnraum grenzte direkt an die Stallungen und Oliver konnte durch die kleinen Öffnungen im Mauerwerk, Licht im inneren des Hauses erspähen. Noch war es draußen warm genug, aber bald mussten die Luken mit Strohbündel zugestopft werden, damit die unsagbare Kälte des Winters nicht ungeschützt in das Innere des Hauses gelangen konnte. Zudem hatte die Familie die Möglichkeit die Öffnungen, mit Klappläden seitlich an der Fensterlaibung zu schließen. Dies war ein guter Schutz, wenn der harte Winter über das Land zog. Nicht alle Häuser im Dorf waren so gut ausgestattet.  

Wilhelm lenkte das Tier mit samt dem Karren am Brunnen vorbei, wo eine alte Bäuerin noch schnell etwas Wasser aus der Zisterne schöpfte. Kurz darauf gelangten sie zur Vorderseite ihres Heimes, wo sich nicht nur der Eingang des Hauses befand. Endlich angekommen blickten Oliver erfreut auf den kleinen angelegten Garten mit vielen Kräutern und Beeren. Er seufzte einmal erleichtert auf und krabbelte vom Kohl hinunter.

Der Wagen stoppte und das erschöpfte Lasttier ließ müde den Kopf sinken. Wilhelm ging voran, öffnete das Holztor des Stalls welches an der linken Seite des Hauses zu finden war. Seine Brüder sprangen unterdessen vom Gefährt und spannten den Holzwagen aus. Sofort danach machten sich die drei an die Arbeit und verstauten den Kohl in eine dafür vorgesehene kleine Kammer, die im Stall untergebracht war. Mittlerweile war es dunkel geworden und vereinzelnd helle Lichtpunkte drangen durch die Wolkendecke hindurch. Nachdem das müde Tier und der Karren im Stall untergebracht waren, gingen die drei gemeinsam durch den schmalen Vorgarten in das wärmende Heim.

Die Tür öffnete sich knarrend noch bevor Oliver sie richtig aufschieben konnte. Die angenehme Helligkeit des Feuers, von der Kochstelle blendete ihn ein wenig und der junge Bauer musste die Augen automatisch etwas zusammenkneifen. Vorsichtig zog er den Kopf ein, um durch die Tür zu kommen, denn obwohl Oliver der jüngste in der Familie war, war er Körperlich gesehen der Größte. Mit einem gezwungen lächeln stand der junge Mann nun in der Wohnstube und blickte auf seinen kranken Vater, dessen Körper von der Feldarbeit gezeichnet war. Der Vater lag sanft gebettet auf Stroh, gegenüber von der Eingangstür und war mit einer warmen Decke aus Wolle zugedeckt. Der einst so stolze Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er war nicht mehr in der Lage sich von alleine zu bewegen, geschweige denn die Schlafstelle zu verlassen. Oliver war es nicht entgangen das es seinem Vater von Tag zu Tag schlechter ging und war sich ziemlich sicher, dass er den kommenden Winter nicht mehr erleben würde. Der Husten nahm deutlich zu und er spuckte jedes Mal mehr Blut aus. Der jüngste ging auf ihn zu und streichelte ihm über das dünne und graue Haar, doch sein Vater nahm nicht wirklich Notiz von ihm. Sein Gesicht war eingefallen und faltig. Der Bart war lang, so dass man seinen Mund kaum noch sehen konnte. Das harte Alltagsleben hatte wieder ein Opfer gefordert und bald war Zahltag.

Das gesamte Haus bestand aus einem großen Raum in dem gegessen und geschlafen wurde. Der Stall war durch eine Lehmstrohwand vom Wohnraum abgetrennt. Doch trotz dieser konnte man die Anwesenheit der beiden Schweine und des Ochsen riechen. Sie hatten nicht viele Tiere, gerade mal fünf Stück an der Zahl, aber damit ging es der Familie schon besser als andere Bauern im Dorf, die gar keine Tiere besaßen. Sie waren darauf angewiesen sich Zugtiere auszuleihen, da sie sonst keine Möglichkeiten hatten die Ernte einzuholen und das kostete natürlich etwas.

Lächelnd ging Wilhelm zu seiner geliebten Frau hinüber die an der Feuerstelle stand und auf ihn wartete. Er lächelte sie an und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Sie hatte ihren gemeinsamen Sohn Carl auf dem Arm, der behütete darin schlief. Die erstgeborene war sein ganzer Stolz und er hoffte, dass seine Frau ihm bald einen zweiten Sohn schenken würde. Liebevoll streichelte der Vater seinem Sohn über die Wange und Küsste ihn anschließend auf die Stirn. Oliver und Gabriel gingen in diesem Moment ebenfalls zur Feuerstelle um sich dort aufzuwärmen. Sie hatten noch niemanden, der auf sie wartete, aber dies würde sich bald ändern.

Die Mutter der Brüder war zwei Jahre jünger als der Vater und ebenso wie er, war auch sie von der harten Arbeit im Alltag gekennzeichnet. Ihre Hände waren knochig und Ihre Haut war rau und stumpf. Sie begrüßte ihre Kinder rasch und half Ihren Söhnen aus den nassen Kleidern. Im hinteren Bereich hängte sie diese an ein Seil, welches an der Rückwand zum Stall gespannt war. Hier konnte die Kleidung in Ruhe trocknen. Zwei Hühner liefen gackernd auf dem Boden herum und suchten Schutz vor den vielen Füßen.

Nach einer Weile setzten sich alle, bis auf das Familienoberhaut, gemütlich um das Herdfeuer und warteten darauf, dass es etwas zu essen gab. Die drei zogen rasch ein dünnes und trockenes Leinenhemd über.  Es war ein schönes Gefühl etwas Trockenes auf der Haut zu spüren. Dann entspannten sie sich etwas und bemerkten allesamt die Müdigkeit in sich aufsteigen, welche sie den ganzen Rückweg ignoriert hatten. Zufrieden lehnte sich Oliver an einen Stützbalken und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Unterdessen brachte die Mutter ihnen etwas zu Essen.

„Es ist nicht viel, aber es wird Euch guttun.“, sagte sie liebevoll. Die Mutter reichte ihren Familienmitgliedern jeweils ein Stück selbstgebackenes Brot und zudem ein Gefäß mit warmem Kohl. Die Augen der hungrigen Beteiligten leuchteten im Feuerschein liebevoll und dankbar auf. Im Gegensatz zum Frühstück war das Abendessen meistens etwas umfangreicher, sofern genug da war. Die Familie belohnte sich abends mit ausreichend essen, für die viele Arbeit, die sie den ganzen Tag verrichten hatten. Schnell griff Oliver nach dem Gefäß und tunkte das Brot in den heißen Kohl. Schlürfend und schmatzend nahm er die Mahlzeit zu sich und stillte sein verlangen nach Nahrung. Alle wirkten zufrieden und schon bald war die gesamte Familie gesättigt.

Die Nacht hatte sich nun vollständig über das Dorf gelegt und hüllte die Umgebung in kalte Dunkelheit. Bald nach dem Abendbrot war völlige Ruhe eingekehrt. Das Feuer brannte leise nieder, hüllte den Raum in eine angenehme Wärme und ließ die Kälte draußen. Über einen kleinen Kamin zog der Rauch ab und sorgte dafür, dass es nicht so stickig war.

Oliver lag auf seiner Schlafstelle, hatte die Hände im Nacken verschränkt und schaute auf die sich bewegende Schatten an den Wänden, die durch das Feuer verursacht wurden. Er musste kurz an den flüchtigen jungen Mann denken. Warum er ihm in den Sinn gekommen war konnte er nicht sagen, aber der Gedanke war auf einmal da. Kaum war er auf den Bauch gerollt schwanden seine Sinne und er träumte tief und intensiv wie fast jede Nacht. Oliver war ein guter und regelmäßiger Träumer, dessen Inhalten unbewusste viele Türen zu seinem Unterbewusstsein öffneten. Ob er es wollte oder nicht. Sein Verstand war einfallsreich und drückte seine Sorgen, Wünsche und Sehnsüchte in faszinierende Bilder aus.